Am 14. November 2025 war ich in Köln zur Vernissage meiner lieben Freundin Birgit Staudinger, kuratiert wurde die Ausstellung „Was bleibt?“ sensibel und kundig von Daniela Topazi. Ich verfolge Birgits Werdegang als Fotografin schon lange – und habe im Entstehungsprozess der aktuellen Ausstellung „Was bleibt?“ öfter mit ihr über das Thema gesprochen. Und so habe ich mich gefreut, als sie mich bat, auf der Vernissage einige Worte zur Einführung zu sagen.
Birgit Staudinger ist in Essen geboren und arbeitet hauptberuflich im Bereich IT. Die Faszination für Fotografie stammt von ihrem Vater, der auf Spaziergängen fotografierte. Sie hat sämtliche Kameras von ihm, erinnert sich an seine Dunkelkammer im Keller. Zunächst zeichnete und malte sie, konnte sich damit aber nicht so gut ausdrücken. Erst mit der Fotografie gelang es ihr, ihren eigenen Ausdruck zu finden. Als Fotografin beschäftigt sie sich schon lange mit dem Ungesagten, Unaussprechlichen, dem, was in voller Sicht verborgen ist. Sie erkundet das Unscharfe, die Formen, Licht, das durch Vorhänge dringt, die Winkel und Details, die wir so leicht im Alltag übersehen. Dieser weite Blick hat sich über die Jahre verfeinert, wie ihre Werksschau letztes Jahr im März mit Kata Marosvari in diesem Raum zeigte. Im nächsten Jahr im Juni werden wir bei der Gruppenausstellung des Ateliers Köln-Süd mehr von Birgits Werken sehen. Danke an dieser Stelle an Katharina Siebert, die Gründerin des Ateliers – sie bietet die Möglichkeit für Ausstellungen – und sorgt auch nachdrücklich dafür, dass diese genutzt wird.
Das Atelier besteht inzwischen seit 5 Jahren, die Ausstellungen werden freundlicherweise von der Stadt Köln gefördert. Seit zwei Jahren ist Birgit Staudinger schon dort. Sie empfindet das Netzwerk als hilfreich, ist inspiriert durch den Austausch und die Gegenwart anderer Künstlerinnen.
Birgit Staudinger findet dort auch als nicht-vollberufliche Künstlerin den Raum, um sich auszuprobieren, an ihren Ideen und Bildern zu arbeiten und sich nur darauf zu konzentrieren. Für die aktuelle Ausstellung und in ihrer aktuellen künstlerischen Schaffensphase war es ein wichtiger Schritt, im Atelier Köln-Süd einen Platz zu finden.
In „Was bleibt?“ setzt sich Birgit Staudinger mit einem Teil ihrer Familiengeschichte auseinander. Entstanden ist eine zugleich zeitgeschichtliche wie auch persönliche Arbeit. Das Thema: Wie erinnern wir uns, was verschweigen wir, warum?
Birgit Staudinger erfuhr 2014 erst durch einen Erbenermittler, dass es eine Person in ihrer Familie gegeben hatte, die kein Gesicht, keinen Platz hatte: Ida Voss, die erste Frau ihres Großvaters. Dass dieser schon einmal verheiratet gewesen war, hatte sie bis dahin nicht geahnt, auch nicht, dass zwei Söhne aus dieser Verbindung hervorgegangen waren.
Ida Voss war 1904 geboren worden und 1935 in der Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau gestorben, wie, das bleibt unklar. Es ist nichts bekannt über ihr Schicksal außer diesen wenigen Daten. Wir wissen nicht, warum sie in die Pflegeanstalt kam, wie sie starb und was mit ihren beiden Kindern geschah. Ihr Schicksal ist unbekannt oder unausgesprochen – „eine unbegreifliche Biografie“ sagt Birgit Staudinger.
Über zehn Jahre dauerte es, bis sie es wagte, sich an diesen blinden Fleck in der Familiengeschichte heranzutasten. Die Ausstellung gibt ihr die Möglichkeit, die Erinnerung an ihre eigene vermeintliche familiäre Realität durch eine künstlerische Sicht neu zu ordnen und gleichzeitig dem Leben einer Frau nachzuspüren, die vergessen oder verschwiegen wurde.
Im Januar 2025 reiste sie nach Bedburg-Hau, das am unteren Niederrhein bei Kleve liegt. Sie wollte sich den Ort ansehen, wo Ida den letzten Teil ihres Lebens verbrachte. Dort gibt es auch heute noch eine Klinik für psychisch und neurologisch erkrankte Menschen, die mittlerweile vom Landschaftsverband Rheinland betrieben wird. Sie besuchte den Friedhof und lief über die 80 Hektar große Wald- und Parkanlage, sah sich die Gebäude an, die zum Teil noch so aussehen wie zu der Zeit, als Ida am Leben war. Die aus dieser Reise und der besonderen Stimmung heraus entstandenen Fotografien kombinierte Birgit Staudinger für die Ausstellung mit weiteren Aufnahmen, teils bewusst dafür angefertigt, teils aus ihren Werksbeständen thematisch dazu ausgewählt.
Das Ergebnis ist eine künstlerische Auseinandersetzung voller Poesie und Melancholie – aus dem Wunsch heraus, dass Ida nicht länger vergessen oder verschwiegen wird. Es geht dabei nicht um restlose Aufklärung, um „den Fall Ida Voss“ oder um die Frage: Was ist geschehen? Selbst wenn wir einen Totenschein oder Arztbericht von ihr hätten, würde das nicht sehr viel über das verraten, was sie dachte und fühlte als Frau zwischen den Epochen der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus in einer psychiatrischen Anstalt: Es gibt aber keinerlei Unterlagen, und Ida bleibt eine Leerstelle, wie Birgit Staudinger auch hier in der Ausstellung eindringlich zeigt: Es existiert nicht einmal ein Foto von ihr.
Die Fotografien, so wie sie von der Künstlerin in Zusammenarbeit mit ihrer Kuratorin angeordnet wurden, fragen uns nachdrücklich: Wer war Ida, die Unbekannte? Wie wirkt ihre Abwesenheit auf die Familiengeschichte? Dass über all dem ein Schleier liegt, zeigen die Bilder.
Wir kennen nur die Hintergründe, vor denen Idas Leben sich abspielte, und diese lassen Schreckliches vermuten. Bedburg-Hau war damals eine der größten Kliniken in Europa für psychisch Kranke. Der Nationalsozialismus ist wie in vielen dieser Einrichtungen ein düsteres Kapitel. Während dieser Zeit wurden die Kapazitäten der Heilanstalt auf 3.500 Betten erhöht. Ab März 1940, als Ida schon fast fünf Jahre tot war, fanden in dieser wie in vielen anderen Kliniken Transporte der Aktion T4 statt – ein Gedenkstein, der einem Stolperstein ähnelt, weist in der Anlage heute darauf hin.
Was bleibt, ist die Ungewissheit. Wie mag sich Ida, die nicht mehr sprechen kann, in ihrer Zeit hinter den Mauern einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt gefühlt haben? Wie konnte ihr Leben im Nachkriegsdeutschland verschwiegen werden?
Gerade angesichts der heutigen sozialen Kälte, in der der Nutzwert des Menschen von vielen in den Vordergrund gestellt wird, stellt sich uns die Frage: Worin liegt der Wert eines Menschenlebens? Unseres Lebens? Wie gelingt das Erinnern und was möchten wir, das von unserem eigenen Leben bleibt?
Die Vernissage war sehr gut besucht, die vielen Gespräche zeigten: Die Ausstellung „Was bleibt?“ macht nachdenklich, sie lässt uns in Beziehung gehen, eigene Erinnerungen und Familiengeschichten reflektieren, öffnet den Blick für das Ungesagte und Unsagbare. Damit passt sie gut in die dunkle Jahreszeit, in der die Fragen die Antworten überwiegen, wir das Neblige, das Unklare, das Dunkle zulassen.
Die Ausstellung ist bis zum 6.12.2025 im Atelier Köln-Süd, Luxemburger Straße 295, 50939 Köln zu sehen. Öffnungszeiten: Samstag 12-15 Uhr und nach Vereinbarung. Auf Instagram findet ihr Birgit Staudinger als @felis_sense_of_snow

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